:newstime-Interview
Syrien-Experte nach Massaker: "Alawiten, Drusen, Christen - viele fühlen sich unsicher"
- Veröffentlicht: 10.03.2025
- 15:53 Uhr
- Christopher Schmitt
Berichte über blutige Massaker islamistischer Regierungsmilizen an der alawitischen Minderheit schüren Ängste vor einem neuen Bürgerkrieg in Syrien. Im :newstime-Interview ordnet ein Nahost-Experte die Lage im Land ein und erklärt, welche Parteien Einfluss nehmen wollen.
Droht Syrien ein neuer Bürgerkrieg? Rund drei Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Baschar al-Assad ist es in Syrien zu heftigen Kämpfen und Berichten zufolge zu schweren Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen. Mehr als 160 Zivilist:innen sollen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Kämpfern aufseiten der neuen islamistischen Übergangsregierung hingerichtet worden sein. Es soll sich dabei um Angehörige der alawitischen Minderheit gehandelt haben. Auch Frauen und Kinder sollen unter den Toten sein.
Aktivist:innen aus der Stadt Idlib, mit denen die Deutsche Presse-Agentur (dpa) sprechen konnte, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung unter Präsident Ahmed al-Scharaa aus ihrer Provinz, die sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben sollen, für die Massaker verantwortlich.
Insgesamt starben bei den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der gestürzten Regierung von Ex-Präsident Baschar al-Assad und den neuen Machthabern nach Angaben der in Großbritannien ansässigen Beobachtungsstelle bislang mindestens 237 Menschen.
Ein Augenzeuge in der Stadt Banias, wo allein 60 Menschen getötet worden sein sollen, sagte der dpa am Telefon, es herrsche totales Chaos. "Unschuldige Menschen, die unbewaffnet waren, wurden entweder in ihren Häusern oder davor vor den Augen ihrer Familien erschossen", so der Mann, der aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden wollte.
Im :newstime-Interview ordnet Carsten Wieland, der ehemalige Berater der UN-Sondergesandten für Syrien, die komplexe Lage ein. In Syrien passiere jetzt, was viele bereits im Dezember erwartet hatten, jedoch ausgeblieben sei, als die Militärkoalition aus dem Norden Syrien überrannt hatte: "Widerstand der alten Schergen des Assad Regimes, auch von Kriegsverbrechern, von denen einige jetzt zum Teil gefangengenommen wurden und auch getötet wurden."
Arabische Medien: Assad hat "seine Hände im Spiel"
Bereits in den vergangenen Wochen habe sich laut Wieland dieser Widerstand aus den Reihen der gestürzten Ex-Regierung angedeutet. Nach Angaben arabischer Medien habe auch Assad weiterhin seine Hände im Spiel, ebenso wie der mit dem gefallenen Diktator verbündete Iran - und möglicherweise auch Russland.
Der neue Machthaber al-Scharaa habe aktuell an zwei Fronten zu kämpfen. Einerseits mit alten Assad-Getreuen, andererseits mit islamistischen Radikalen in den eigenen Reihen, "die tatsächlich Massaker an Zivilisten verüben". Diese Radikalen ließen sich offensichtlich nicht unter sein Kommando organisieren und wollten sich nicht an die vorgegebenen Richtlinien halten.
Experte: "Die Spannungen nehmen eindeutig zu"
"Es gab aber auch immer wieder Überschreitungen gegen Alawiten, Zivilisten. Aber so wie jetzt, dass es so explodiert, das konnte man jetzt auf den Tag genau nicht vorhersehen", so Nahost-Experte Wieland: "Aber die Spannungen nehmen eindeutig zu."
Der neue Regierungschef hatte versprochen, "dass dieses neue Syrien ein Land sein soll, in dem sich alle Religionen und ethnische Gruppen wohlfühlen können und zu Hause fühlen können und alle gemeinsam den Staat aufbauen", erinnert Wieland. "Das war eine große Ankündigung, die jetzt auf der Kippe steht."
Hinzu kämen in der fragilen Situation andere Staaten, die in Syrien Einfluss ausüben und das Macht-Vakuum auszufüllen versuchten. Wieland nannte hier die Türkei und Israel, gegen das sich nun auch eine vom Iran unterstützte Widerstandsgruppe gegründet habe.
Das Szenario Bürgerkrieg, wie in Libyen oder im Irak, sei genau das, was al-Scharaa habe verhindern wollen. Von Versöhnung habe der neue Regierungschef gesprochen, von einer Einheit der Institutionen. "Ob er dieses Versprechen halten kann, wird sich zeigen", so Syrien-Experte Wieland skeptisch. Er denke, der neue Machthaber habe "auch verschiedene Dinge nicht eingelöst, die andere Minderheiten auch von ihm verlangt hatten".
Angst vor "Rachefeldzügen"
Diese Minderheiten haben Angst durch die "Rachefeldzüge" der Regierungseinheiten. "Nicht nur Alawiten, nämlich, auch Drusen, auch Christen. Viele fühlen sich momentan unsicher." Hier müsse al-Scharaa eingreifen, um seine Glaubwürdigkeit zu stärken und sein "Übergangsprojekt" zu retten. Dazu zähle auch, Sanktionen gegen ihn weiterhin aufheben zu lassen.
Wieland sieht die Situation "auf der Kippe" Richtung Eskalation. Es gebe ja auch weiterhin die Konfrontation mit Kurden im Nordosten. Auch die von Israel unterstützten Drusen spielen eine Rolle. Angesichts der Bedrohungslage durch die Islamisten sinkt die Bereitschaft, wie von al-Scharaa geplant, Waffen abzugeben und sich in eine einheitliche syrische Armee zu integrieren.
"Das würde bedeuten, dass er das Gewaltmonopol des Staates nicht herstellen kann, dass er also die staatlichen Strukturen, so wie er es versprochen hat, nicht herstellen kann", erklärt Wieland. Dann gebe es keine regulären Truppen, keine Polizei, nur "verschiedene Milizen, die unterschiedlich radikal sind und auch nur unterschiedlich stark auf ihn hören. Und das wäre fatal für das gesamte Image dieser Militärkoalition."
Was sagt die neue syrische Regierung?
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend (7. März) bereits an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten versucht, "das neue Syrien zu testen", sagte er. Al-Scharaa lobte zudem die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief deren Gegner auf, ihre Waffen niederzulegen.
Jeder, der Übergriffe gegen Zivilist:innen begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef an, für den die Auseinandersetzungen der erste große Test seit der Machtübernahme darstellen. Die Massaker erwähnte er nicht direkt. Er richtete jedoch einen Aufruf an "alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben" sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und "die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstöße zu kontrollieren".
Der Chef des syrischen Geheimdiensts, Anas Khatab, hatte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Ex-Präsidenten Baschar al-Assad für die Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der Dutzende Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien, teilte Khatab per Kurznachrichtendienst X mit. Sie würden dabei aus dem Ausland gesteuert. Die Beobachtungsstelle hatte berichtet, dass bei Angriffen am Donnerstag 16 Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung getötet worden waren.
- Verwendete Quellen
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa