Kolumne
Gefährliche Zeitgeschichte
- Veröffentlicht: 14.06.2023
- 18:00 Uhr
- Axel Storm
In einem beispiellosen Verfahren klagt die US-Justiz einen früheren Präsidenten wegen des Verstoßes gegen ein Spionage-Gesetz an. So etwas gab es noch nie. In Miami wird gerade ein völlig neues Kapitel der politischen Geschichte der USA geschrieben. Aber: Was auf den ersten Blick wie die Aufarbeitung der Trump-Jahre anmutet, könnte das Land vor eine neue Zerreißprobe stellen.
Axel Storm berichtet als Korrespondent für :newstime aus den USA. In den vergangenen Jahren war er als Kriegs- und Krisenberichterstatter in vielen "hotzones" tätig und arbeitete als Auslandskorrespondent in Südafrika, Ägypten und zuletzt Russland.
Die Schultern nach vorne gebeugt, die Arme vor der Brust gekreuzt. So beschreiben die Beobachter die stoische Haltung des Angeklagten. Donald John Trump, an diesem Tag kurz vor seinem 77. Geburtstag, sitzt vor dem Amtsrichter im Bundesgerichtsgebäude von Miami, Florida und hört zu. Hört zu, wie Richter Jonathan Goodman vorträgt, dass ihm die Vereinigten Staaten vorwerfen, schlampig, fahrlässig, kriminell mit Staatsgeheimnissen umgegangen zu sein. Kistenweise hochsensible Dokumente aus dem Weißen Haus in seinen Vergnügungsgolfanwesen Mar-a-Lago verfrachtet zu haben. Wo sie offenbar, unzureichend gesichert, gelagert wurden. Und verschwiegen, als nach ihnen verlangt wurde.
Donald Trump muss in den vergangenen Monaten oft zuhören, während ihm Ankläger Fehlverhalten vorwerfen. Immer wieder steht er vor Gericht, zuletzt in New York, als die Autorin E. Jean Carroll ihn wegen Vergewaltigung und Rufschädigung verklagt.
Toller Geburtstag
Ein paar Stunden nach seinem Nachmittagstermin in Miami steht Donald John Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten und republikanischer Wahlkämpfer, vor hunderten Anhängern in Bedminster, New Jersey und hält seine Verteidigungsrede. Sie gehört hier nicht hin, sie gehört vor Gericht, aber Trump hat sich noch nie um die richtigen Worte am richtigen Ort geschert. So flucht er, dass Joe Biden der korrupteste Präsident der Vereinigten Staaten sei. Dass Bill Clinton Audio-Aufnahmen aus dem Weißen Haus gestohlen, dass seine Frau Hillary gegen das Spionagegesetz verstoßen habe. Alle korrupt und kriminell, Kommunisten, "Gangster!", poltert Trump. Während er selbst, sagt er, alles richtig gemacht habe. Und nun mit 400 Jahren Haft bedroht werde.
Im Video: Nach Anklage - Trump plädiert auf "nicht schuldig"
Nach Anklage: Trump plädiert auf "nicht schuldig"
Schmaler Grat
Die Anklage, die Sonderermittler Jack Smith gegen Trump führt, ist gefährlich, aber gleichsam unabdingbar. Gefährlich, nicht, weil Trump kein Recht auf einen fairen Prozess hätte – das hat er. Nicht, weil Trump eine Haftstrafe droht – das ist der Fall. Nicht, weil zu befürchten steht, dass wahr ist, was die Trump-Anhänger lauthals postulieren: Dass dies ein politisch motiviertes Verfahren sei, um mit ihm abzurechnen – das ist es nicht.
Sie ist gefährlich, weil Trump noch über so viel Gravitas, so viel gesellschaftlichen Hebel verfügt, dass der Kern der amerikanischen Gesellschaft bedroht ist: der Zusammenhalt. Das Prinzip der "One nation under God". Und damit die Demokratie an sich.
Gebrochenes Siegel
Die Metapher des gebrochenen Siegels nutzen Trump-Anhänger gerne, um aufzuzeigen, wie moralisch verwerflich sei, was die demokratische Führung in Washington mit ihrem politischen Gegner "anstelle". Wie sie gegen jedes Recht, gegen Sitte und Anstand sowieso, aber auch gegen Tradition, patriotische Verbundenheit, ja, politische Fairness, vorgehe, um ihre angeblich linke Agenda durchzusetzen und Gegner aus dem Weg zu räumen. Dabei gehört zur akkuraten Schilderung, dass Trump während seiner Amtszeit als Präsident fast tagtäglich gegen all diese Normen verstoßen hat.
Zerrüttete Gesellschaft
Was also, wenn Trump wirklich verurteilt wird und ins Gefängnis muss? Einen Eindruck davon, was dann droht, erfährt man schon jetzt. Die prominente republikanische Politikerin Kari Lake sagte: "Wenn ihr an Donald Trump vorbei wollt, müsst ihr an 70 Millionen Amerikanern vorbei. Und an mir. Und viele von uns sind in der NRA" (National Rifle's Association, die größte Waffenlobby-Organisation der USA, Anm.). Eine offene Drohung. Dass radikale Trump-Anhänger bereit sind, Gewalt einzusetzen, hat der 6. Januar 2021 gezeigt. Als bewaffnete Horden das Kapitol in Washington stürmten und stundenlang in Amerikas politischer Herzkammer, dem Parlament, für Angst und Schrecken sorgten.
Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Alt-Right-Bewegung fabuliert seit Trumps Anklage in Miami schon von Bürgerkrieg. Normen, auf die sich die Gründungsväter für den politischen Wettbewerb einigten, scheinen längst außer Kraft gesetzt.
Genau das ist die Gefahr, die einhergeht mit dieser Trump-Anklage: Dass sich ein Teil der Gesellschaft verabschiedet vom Minimalkonsens: der Gewaltfreiheit im politischen Wettbewerb.