Psychologie
Münchhausen-Syndrom: Was es mit der vorgetäuschten Krankheit auf sich hat
- Veröffentlicht: 12.01.2024
- 17:00 Uhr
- Julia Wolfer
Beim Münchhausen-Syndrom erfinden Menschen Krankengeschichten und Symptome oder fügen sich oder anderen teils schwere Schäden zu. Sie auf die Täuschung und die Rolle des Betrügers zu reduzieren, ist aber falsch: Diese Menschen leiden an einer schweren psychischen Krankheit.
Das Wichtigste zum Münchhausen-Syndrom
Das Münchhausen-Syndrom ist eine schwere psychische Erkrankung. In der Medizin wird sie als artifizielle Störung bezeichnet.
Betroffene täuschen körperliche oder psychische Krankheiten an sich selbst oder einer dritten Person vor.
Eine eindeutige Diagnose des Münchhausen-Syndroms ist äußerst schwierig. Häufig bleibt die Erkrankung lange Zeit unentdeckt.
Behandelt werden artifizielle Störungen durch Psychotherapie.
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Was ist das Münchhausen-Syndrom?
Personen, die Erkrankungen vortäuschen oder hervorrufen, leiden an einer artifiziellen Störung. Umgangssprachlich wird oft die Bezeichnung Münchhausen-Syndrom verwendet in Anlehnung an den "Lügenbaron" Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen.
Die Ausprägung der Erkrankung reicht von erfundenen Krankengeschichten bis hin sich selbst lebensgefährliche Erkrankungen zuzufügen.
Die Bezeichnung Münchhausen-Syndrom beschreibt das Krankheitsbild nur unzureichend, da sie das Täuschen besonders hervorhebt. Tatsächlich steht nur bei einem kleinen Teil der Patient:innen (rund zehn Prozent) pathologisches Lügen (Pseudologia phantastica) im Vordergrund.
"Den allermeisten Patient:innen wird mit der Bezeichnung Münchhausen-Syndrom Unrecht getan", sagt Expertin Prof. Constanze Hausteiner-Wiehle vom Klinikum rechts der Isar in München. Zentrales Motiv seien für die Betroffenen das Einnehmen der Krankenrolle, die damit verbundene Zuwendung oder die Selbstschädigung als Lösungsversuch unbewusster Bedürfnisse und Konflikte.
Welche Arten des Münchhausen-Syndroms gibt es?
Münchhausen-Syndrom
Bei der häufigsten Form der artifiziellen Störungen täuschen Betroffenen psychische oder körperliche Erkrankungen bei sich selbst vor oder rufen diese absichtlich hervor. Häufig schädigen sich die Patient:innen selbst, indem sie Medikamente einnehmen, sich vergiften oder verletzten, um glaubhaft eine Erkrankung vorzutäuschen. Dass sie diese selbst verursacht haben, verbergen sie dabei bewusst. Die provozierten Symptome, die bei diesem Krankheitsbild auftreten können, sind vielfältig.
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen-by-Proxy)
Eine weitere Variante der artifiziellen Störungen ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oder Münchhausen-by-Proxy. Dabei täuschen die Betroffenen Krankheitssymptome bei einer dritten Person vor, zum Beispiel bei ihrem eigenen Kind, oder provozieren die Symptome durch Manipulation. Expert:innen schätzen, dass 2,5 von 100.000 Kindern im ersten Lebensjahr davon betroffen sind, wobei die Dunkelziffer um einiges höher liegen dürfte.
Münchhausen-by-Internet-Syndrom
Immer häufiger täuschen Menschen auch Erkrankungen im Internet vor, zum Beispiel in Foren, Online-Selbsthilfegruppen, auf Blogs oder Social-Media-Plattformen. Manche berichten dabei nicht nur über sich, sondern auch über schwere Krankheitsfälle bei ihren Kindern und anderen Angehörigen. Selten fügen sie sich aber selbst tatsächlich Krankheiten und Verletzungen zu. An erster Stelle steht Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu erlangen. Aber nicht alle dieser Menschen sind krank: Es kann sich auch um Betrüger handeln, die sich auf diese Weise Spenden erschleichen.
Dermatitis factitia: sich selbst verletzen
Abhängig von der Art der Schädigung, die sich Betroffene zufügen, werden auch verschiedene Untertypen der artifiziellen Störung definiert. Die größte Gruppe darunter bildet die Dermatitis factitia. Bei dieser Form der Erkrankung fügen Betroffene sich gezielt Schäden an Haut, Haaren, Nägeln oder Schleimhäuten zu.
Wer ist von artifiziellen Störungen betroffen?
Schädigendes Verhalten gegen sich und Dritte wird zum überwiegenden Teil bei jüngeren Frauen beobachtet. Ein Erklärungsansatz ist, dass Frauen häufiger von einer Objektifizierung ihres Körpers betroffen sind als Männer. Eine andere Hypothese ist, dass Männer bei Belastungen und Konflikten stärker zu Gewalt gegen Dritte als gegen sich selbst neigen. Womöglich werden artifizielle Störungen bei Männern aber auch häufiger übersehen als bei Frauen.
Grundsätzlich können Menschen aller Schichten, Altersgruppen und jedes Geschlechts von artifiziellen Störungen betroffen sein. Darunter auch Kinder. Auffallend oft handelt es sich um Personen mit medizinischen Qualifikationen oder Vorkenntnissen, was ihnen das Vortäuschen von Krankheiten erleichtert.
Münchhausen-Syndrom: Mögliche Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen sind nicht eindeutig geklärt. Es werden allerdings vor allem unbewusste traumapsychologische Motive hinter dem Krankheitsbild vermutet. Die Krankheitszeichen selbst werden aber fast immer bewusst vorgetäuscht.
Patient:innen haben häufig in der Vergangenheit
- schwere Vernachlässigung,
- Gewalt,
- Misshandlung oder
- Missbrauch
erfahren, bei der ihr Körper von anderen wie ein Gegenstand benutzt und verletzt wurde. Viele haben haben auch
- schwere Krankheit und
- lange Klinikaufenthalte
erlebt, sodass ihnen Schmerzen, Eingriffe und Krankenhäuser vertraut sind. Betroffene fühlen sich häufig minderwertig oder isoliert. Auch Einsamkeit gilt als möglicher Risikofaktor.
Nach Ansicht von Prof. Hausteiner-Wiehle spielt auch das Gesundheitssystem eine gewisse Rolle. "Ein frei zugängliches Gesundheitssystem, das schnell und verlässlich auf Symptome reagiert, ist wichtig", sagt die Expertin. "Aber Ärztinnen und Ärzte sollten sich – im Interesse ihrer Patienten – neben 90 Prozent Empathie immer zehn Prozent kritische Distanz bewahren." Dass Patienten heimlich ihren eigenen Körper schwer schädigen und damit ihre Behandler lenken und benutzen, sei auch für Ärzt:innen oft schwer vorstellbar.
Artifizielle Störung: Was sind die Motive der Betroffenen?
Durch das Einnehmen der Krankenrolle und die Selbstschädigung versuchen die Betroffenen wahrscheinlich eine Lösung für - meist unbewusste - Bedürfnisse und Konflikte zu finden.
Es ist wichtig zu betonen, dass es den Betroffenen anders als bei der Simulation dabei nicht um äußere Anreize wie etwa finanzielle Entschädigungen oder das Umgehen einer Strafe geht. Vielmehr haben Patient:innen mit artifizieller Störung eine innere Motivation.
Die Selbstschädigung kann beispielsweise der Versuch sein, frühere Gewalterfahrungen zu re-inszenieren oder die Erfahrung, dass der eigene Körper nur ein Objekt ist, durch das Verhalten zu bestätigen. Das Gesundheitssystem zu täuschen und Ärzt:innen zu instrumentalisieren bedeutet auch, Macht zu haben – für viele womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben.
Manche Betroffene haben in ihrer Vergangenheit auch gelernt, dass sie in der Familie nur Zuwendung und Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie sich verletzt haben oder krank sind. Demnach kann die Krankenrolle auch der Versuch sein, soziale Nähe herzustellen.
Andere haben tatsächlich Krankheit erlebt und dadurch lange Zeit in Kliniken verbracht. Überfordert von einem Leben außerhalb der Klinik, versuchen sie, sich durch die Krankenrolle zurück in ihr gewohntes Umfeld zu flüchten.
Der Gewinn, denn Patient:innen aus ihrem schädigenden Verhalten ziehen, ist aus ihrer Sicht größer als der dadurch drohende Schaden. Dadurch kann das Verhalten einen regelrechten Suchtcharakter entwickeln. Zwar nehmen die Betroffenen zum Teil sogar in Kauf zu sterben und die Suizidrate ist unter Betroffenen tatsächlich erhöht.
Wie verändert sich die Lebensqualität mit artifizieller Störung?
Die Lebensqualität der Betroffenen ist objektiv betrachtet schlecht. Die Verletzungen und Erkrankungen, die die Patient:innen sich oder anderen durch ihr schädigendes Verhalten zufügen, können massiv sein und langfristige Konsequenzen für die Gesundheit haben. Die Sterblichkeit bei diesem Krankheitsbild gilt als hoch.
Wie bei Suchterkrankungen fühlen sich die Aufmerksamkeit, Zuwendung oder Entlastung, die sie durch die vorgetäuschte Erkrankung erlangen, für die Betroffenen fast lebenswichtig an. Vordergründig steigert das ihre Lebensqualität. Der Gewinn scheint hoch - höher ist der Preis, den sie dafür bezahlen. Das zeigt, wie groß die Not vieler Patient:innen ist.
Symptome: Woran erkennt man das Münchhausen-Syndrom?
Die Ausprägung des Krankheitsbildes und die Art der vorgetäuschten Erkrankungen sind sehr vielfältig; es ist nicht möglich, alle Täuschungsmöglichkeiten und alle Befunde aufzuzählen.
Typische Befunde, Verhaltensweisen und Auffälligkeiten sind:
- Oft fallen bestimmte Abweichungen auf, etwa dass Laborwerte nicht zusammenpassen oder es Anzeichen für Einstiche, Abschnürungen, Verätzungen oder Verbrennungen gibt.
- Die Manipulationen können gering sein (zum Beispiel veränderte Arztbriefe), aber teilweise auch drastische Ausmaße annehmen. So verletzen oder vergiften sie sich oder eine andere Person, nehmen heimlich Blut ab, um eine Blutarmut (Anämie) vorzutäuschen und bringen sich und andere dadurch teilweise in Lebensgefahr.
- Auch organische Erkrankungen wie Herzleiden können sie sehr überzeugend vortäuschen.
- Betroffene haben kein echtes Interesse an einer Heilung. Oftmals versuchen sie daher die Behandlung zu sabotieren, um die Symptome nach oder auch schon während der Behandlung - vorgeblich oder tatsächlich - zu verschlechtern.
- Die Patient:innen zeigen selbst gegenüber schmerzhaften und gefährlichen medizinischen Eingriffen häufig eine gleichgültige Haltung. Sie drängen behandelnde Mediziner:innen mitunter sogar zu gefährlichen Behandlungen.
- Betroffene wechseln häufig den Arzt oder die Klinik sobald sie behandelt wurden oder Verdacht geschöpft wird. Dies wird auch als Hospital-hopper-Syndrom bezeichnet.
- Speziell bei by-Proxy: Der Gesundheitszustand der Patient:in verbessert sich in Abwesenheit der Bezugsperson (zum Beispiel der Mutter).
- Manche Patient:innen zeigen zwanghaftes Lügen (Pseudologica phantastica). Dabei erfinden sie ständig neue Erzählungen über ihre Krankengeschichte und schmücken die Symptome dabei sehr dramatisch aus.
Untersuchungen und Diagnose: Wie wird das Münchhausen-Syndrom diagnostiziert?
Eine eindeutige Diagnose der artifiziellen Störungen ist äußerst schwierig. Das liegt unter anderem an der großen Bandbreite von möglichen Symptomen und Erkrankungen. Vielen Patienten gelingt es oft über Jahre, selbst Spezialisten zu täuschen, auch weil viele subjektive Beschwerden, wie zum Beispiel Kopfschmerzen, nicht objektiv messbar sind. Hinzu kommt, dass Betroffene häufig besonders kooperativ erscheinen und Ärzt:innen ihren Patient:innen in aller Regel Glauben schenken.
Für die Diagnose des Münchhausen-Syndroms müssen laut der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) folgende Kriterien zutreffen:
- Symptome werden wiederholt und andauernd vorgetäuscht. Um die Symptome hervorzurufen, können Betroffene sich selbst oder andere absichtlich schädigen.
- Bei Vorerkrankungen verschlimmert die betroffene Person bewusst bestehende Symptome oder verfälscht oder provoziert zusätzliche Symptome.
- Die Täuschung ist nicht durch äußere Anreize wie finanzielle Entschädigungen oder die Umgehung einer Strafverfolgung motiviert.
- Das Verhalten lässt sich nicht durch eine andere psychische Störung, wie zum Beispiel Schizophrenie erklären.
Selten wird die Täuschung eindeutig aufgedeckt. Vielmehr gibt es meist nur eine Sammlung von Indizien, die lediglich eine Verdachtsdiagnose zulassen. Die Therapie kann jedoch auch schon zu diesem Zeitpunkt beginnen.
Behandlungsmöglichkeiten für artifizielle Störungen
Die artifizielle Störung kann nur mit einer Psychotherapie behandelt werden, entweder ambulant oder stationär. Eine psychotherapeutische Beratung ist bereits sinnvoll, wenn es sich nur um eine Verdachtsdiagnose handelt. Zwangseinweisungen und Medikamente sind selten zielführend.
Zu Beginn der Psychotherapie sei es noch nicht zwingend notwendig und manchmal kontraproduktiv, die Täuschung zu thematisieren, erklärt die Expertin. Teilweise komme man mit den Betroffenen zunächst besser über zusätzliche Probleme wie Schlafstörungen, Schmerzen, Depressionen, Einsamkeit oder Zukunftsängste ins Gespräch.
Mehr und mehr wird dann an den Motiven für das selbstschädigende und täuschende Verhalten und an möglichen Ursachen gearbeitet, wie etwa Trauma-Bewältigung.
Ziel ist ein ehrlicher und konstruktiver, anstatt falscher und destruktiver Umgang mit dem eigenen Körper und mit sozialen Beziehungen.
Wie sollte mit artifiziellen Störungen umgegangen werden?
Ärzt:innen und Angehörige reagieren meist mit Enttäuschung und Wut, wenn die Täuschung auffliegt. Von harter, direkter Konfrontation und einem "Fallenlassen" der Betroffenen wird allerdings abgeraten. Das kann zu einem Kontakt- oder Behandlungsabbruch führen und es besteht die Gefahr, dass Patient:innen die Klinik wechseln, weitermachen und sich die Ausprägung der Erkrankung über die Zeit verschlimmert.
Erfolgversprechender sind eine indirekte Konfrontation und ein Gesprächsangebot mit dem Signal, dass man sich auch ohne Symptome und ohne Drama für die Betroffenen interessiert. Das ermöglicht Patient:innen einen gesichtswahrenden Ausweg und erhöht die Chancen auf eine Psychotherapie.
Auch Angehörige sollten versuchen, den Betroffenen Alternativen anzubieten und zu signalisieren, dass es keine dramatischen Krankengeschichten braucht, um Liebe und Aufmerksamkeit zu bekommen.
Teilweise können die Betroffenen nach einer solchen empathischen, indirekten Konfrontation mit konkreten Hilfsangeboten mit den Manipulationen aufhören. "Es ist enorm wichtig, den Betroffenen eine bessere Alternative zur Krankenrolle aufzuzeigen", sagt Prof. Hausteiner-Wiehle.
Besteht allerdings akute Gefahr für Patient:innen oder Dritte, reichen diese Maßnahmen nicht aus. Bei der Schädigung anderer Personen (by-Proxy) ist das Verhalten zudem strafrechtlich relevant. So kann zum Beispiel der Tatbestand der Kindesmisshandlung erfüllt und es sinnvoll sein, das Jugendamt, in manchen Fällen auch die Polizei einzuschalten.
Gibt es Forschung zu artifiziellen Störungen?
Alle Empfehlungen basieren auf im Wesentlichen Einzelfallberichten, Fallserien und Expertenmeinungen. Es besteht ein großer Mangel an systematischen Studien. Bislang wurden keine Leitlinien zum Umfang mit artifiziellen Störungen definiert.
Betroffene sind selten dazu bereit, an Studien teilzunehmen und außerhalb des geschützten Raums der Psychotherapie über ihre Erkrankung zu sprechen. Grund dafür ist auch, dass das Krankheitsbild bis heute unter Ärzt:innen und Bevölkerung stark tabuisiert ist.